Page 105 - Heiligenhauser Magazin 1-2021
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 jahrelanger vergeblicher Suche sieht er sie als Jura-Student in einem Prozess wieder. Er muss erleben, dass seine leidenschaft- liche Geliebte während der Nazi- zeit eine KZ-Aufseherin war und gleichzeitig erkennen, dass sie als Analphabetin schamvoll gelitten hat. Aus Scham ihr Analphabeten- tum zu verraten, bekennt sie sich zu einem vernichtenden NS Doku- ment das sie niemals schrieb, ihr aber lebenslange Haft einbrachte. Michael fehlt die Souveränität zur direkten Kontaktaufnahme mit Hanna, er schickt ihr aber über zwei Jahrzehnte Kassetten mit
von ihm selbst gelesener Literatur der Weltgeschichte in Romanen und Dokumenten ins Gefängnis. Dadurch lernt die Analphabetin letztlich lesen und schreiben. Sie verschlingt alle Bücher über die Verbrechen in den Konzentrati- onslagern. Als Michael sie nach Verbüßung der Haftstrafe aus dem Gefängnis zur Integration in die Gesellschaft abholen will, endet die Geschichte tragisch.
Das Buch wird durch seine ein- fühlsame, schöne sprachliche Diktion und erstaunliche Präzision von hohem literarischem Selten- heitswert innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur weltweit gefei- ert. “Ich wollte keine Holocaustge-
schichte schreiben, sondern eine Geschichte über meine Generation im Verhältnis zur Elterngeneration und zu dem was sie während des Dritten Reiches gemacht haben. Das ist ein wichtiger Punkt. Auch meine Protagonistin Hanna war kein Monster. Wenn alle Täter in- nerhalb des Verbrechens im Dritten Reich immer Monster gewesen wä- ren, wäre ihre Be- und Verurteilung einfach. Sie sind es aber nicht. Meine Generation hat das vielfach erlebt, beim Lehrer oder Professor, beim Pfarrer oder Arzt, beim Onkel oder sogar beim Vater als deren nationalsozialistische Vergangen- heit eines Tages offenbar wurde. Diese bittere Erkenntnis passte ganz und gar nicht zum Respekt, zur Bewunderung oder sogar zur Liebe, die unser Verhältnis zu ihnen bestimmt hatte“, betonte der Autor in einem Interview. Wie der Protagonist Michael mit der Vita seiner einstigen Geliebten Han-
na während des Dritten Reiches umgeht, wird kritisch und analy- tisch spannend erzählt, gibt viele Denkanstöße, wird für Jung und Alt gleichermaßen breit empfohlen.
Ruth Ortlinghaus
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