Page 93 - Heiligenhauser Magazin 2-2021
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Florian Illies
den grandiosen kulturellen Blüte innerhalb der schöpferischen Phase der noch jungen Moderne zu analysieren. Dem Autor gelingt mit diesem Werk eine vorzügliche intel- lektuelle Zeitdiagnostik die süchtig macht zur intensiven Auseinandersetzung mit der beginnenden Avantgarde des 20. Jahrhun- derts. Aber ohne Herzblut und brennender Leidenschaft für die Kulturszene wäre Illies kaum dieses grandiose und farbig schillern- de „Lesebuch“ gelungen.
1913. Der Sommer des
Jahrhunderts
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2014, 309 S.
10,99 Euro, ISBN 978-3-596-19324-0
Der Autor geht 2013 auf Spurensuche nach den kulturellen Highlights Europas inner- halb des Jahres 1913, kurz vor Ausbruch
des Ersten Weltkrieges, dem Zeitalter der Avantgarde in der bildenden Kunst, der Literatur und Musik. Hier reizt er die Extreme aus: zwischen Paris und Moskau, zwischen London, Berlin und Venedig begegnen wir zahllosen Künstlern deren Schaffen unsere Welt auf Dauer prägten. Er erzählt in einem schillernden Panorama, aufgeteilt in Kapiteln, die jeweils einem Monat des Jahres entspre- chen und in kurzen Abschnitten fixiert sind. Es entstand ein brillantes Spiel aus Original- zitaten, Nachzeichnungen, Anekdoten und Visionen.
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 Mögen einige Beispiele für viele gelten, die wie alle in ihrer Farbigkeit in einem gekonnt spielerischen Sprachduktus faszinieren:
Florian Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford, war viele Jahre leitender Feuilletonredakteur in namhaften Zeitungen und Mitbegründer und Herausgeber der Kunstzeitschrift „Monopol. Er wurde für sein Werk 2014 mit dem Lud- wig-Börne Preis ausgezeichnet. Heute zählt er zu den bedeutendsten Kulturjournalisten der Gegenwart.
Da malt Kasemir Sewerinowitsch Male- witsch ein Quadrat, Marcel Proust begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, Gottfried Benn liebt Else Lasker Schüler, Rainer Maria Rilke prostet mit Sigmund Freud, Igor Strawinsky feiert das Frühlings-
Ruth Ortlinghaus
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r, Ludwig Kirchner gibt der modernen
Eine Apokalypse im Blick auf den Ersten Weltkrieg lag dem Autor wahrscheinlich fern. Aus der heutigen Sicht aber, nach Zwei Weltkriegen, bleibt die bittere Erkenntnis „Solche Herrlichkeiten, solcher Reichtum können schnell zugrunde gehen“ Für „ Kul- turbesessene“ mit Vorkenntnissen uneinge- schränkt bestens empfohlen.
  Metropole ein Gesicht, Franz Kafka, James Joyce und Robert Musil trinken am selben Tag in Triest einen Cappuccino – und in München verkauft ein österreichischer Postkartenmaler namens Adolf Hitler seine primitiv biederen Stadtansichten.
Illies versteht es glänzend das Jahr 1913 innerhalb der abendländischen Kulturland- schaft in der Charakterisierung von Perso- nen und Situationen zu einer real existieren-
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